Kapitel 1
Sky
Ellie Yang ist leise gestorben. So ganz anders, als sie gelebt hat. Nicht mit einem Knall, nicht laut, bloß ein winziger Absatz in einem Zeitungsartikel. Siebzehn Jahre eines Lebens, abgehandelt in ein paar wenigen Sätzen auf altem Recycling-Papier. Eine Tragödie haben sie es genannt. Ein Schicksalsschlag. Es gibt so viel mehr, was Ellie als Mensch ausgemacht hat, aber nun ist das alles, was sie je sein wird. Bloß eine weitere Tragödie.
Ich setze mich in meinem Bett auf. Finsternis begrüßt mich, durchbrochen nur von den vereinzelten Strahlen des Mondlichts, das milchige Rechtecke auf meinen Zimmerboden malt. Ich habe nicht geschlafen. Nicht wirklich. Ein Blick auf den Digitalwecker auf meinem Nachttisch verrät mir, dass gerade mal eine Viertelstunde vergangen ist, seit ich das letzte Mal hingesehen habe. Mitternacht ist längst verstrichen.
Instinktiv lasse ich meinen Blick schweifen, auch wenn ich es längst spüren kann. Ich bin nicht allein. In den letzten Monaten war ich das nie.
Ich strample die Decke weg. Mit vorsichtigen Schritten balanciere ich zwischen den Farbtöpfen auf dem Boden hindurch zum Fenster und öffne es. Es ist Ende Oktober und die Kälte dringt durch den dünnen Stoff meines weißen Nachthemds. Ich kann das leise Gackern der Hühner bei der Scheune hören und den Ruf einer Eule irgendwo zwischen den Bäumen. In der Ferne, am Ende des Landes, das sich rund um die Farm erstreckt, glitzern die Lichter von Silver Creek.
Die Stimmen sind laut heute Nacht, wie sie das so oft vor Halloween sind. Ich kann selten Worte ausmachen, bloß das Flüstern und Seufzen, das vom Wind davongetragen wird. Grandma hat mir einmal erklärt, dass diese Seelen schon so lange in dieser Welt gefangen sind, dass ihnen nur noch ihre Stimme geblieben ist. Sie sind verdammt zu einer Ewigkeit in Finsternis, bis ihre Namen vergessen werden und sie ein zweites Mal sterben.
Ich spüre ihre Anwesenheit, noch bevor ich mich ihr zuwende. Es ist der kurze Moment der Stille, in dem sich die Luft in meinem Zimmer verändert. Sie wird drückender. Kälter. Als würden meine Klamotten mich herunterziehen, weil sie sich mit Regenwasser vollgesogen haben.
Ich drehe mich um. Sie steht vor mir, ihr Gesicht nicht einen Tag älter als die Erinnerung in meinem Kopf. Dieselben dunklen Augen. Dieselben halblangen schwarzen Haare mit dem Pony, der ihre Brauen komplett verdeckt. Dieselbe blasse Haut. Aber anders als in ihrem letzten lebenden Moment liegt kein stummer Schrei auf ihren Lippen. Stattdessen formen sie sich bei meinem Anblick zu einem neckischen Grinsen, als sie mein weißes Nachthemd begutachtet.
»Du siehst aus wie ein Geist«, bemerkt sie.
»Ha ha.« Ich kann nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. »Du bist doch nur neidisch, weil du für den Rest der Ewigkeit in Sneakers und Hosenträgern feststeckst.«
»Hey, das Outfit ist legendär«, protestiert Ellie. Sie greift an die Hosenträger, die sich über ihr weißes Shirt erstrecken, und spannt sie demonstrativ an. Es ist ein seltsamer Anblick, weil ihre Kleidung und ihre Hände so durchscheinend sind, dass sie bei der Bewegung beinahe miteinander verschmelzen. »Und Hosenträger sind einfach nur zeitlos.«
Sie trägt immer noch dasselbe Outfit wie an jenem Tag: schwarze High-Waist-Stoffhosen, Sneakers, ein weißes Shirt und die Hosenträger, die sie nur wenige Wochen zuvor im Secondhand-Laden in der Stadt gekauft hatte. Es steht ihr.
»Du bist zurückgekommen«, sage ich.
Ihr Lächeln nimmt etwas Sanftes, Ehrliches an. Hätte sie gekonnt, hätte sie mich jetzt vermutlich in den Arm genommen und mir gesagt, dass ich mir nicht immer so viele Sorgen machen soll. »Das tu ich jedes Mal, Sky.«
Sie hat recht. Es gibt keinen Ort, wo sie hingehen könnte. Denn Ellie Yang, meine beste und einzige Freundin auf dieser weiten Welt, ist vor sechs Monaten gestorben. Und ich bin die Einzige, die weiß, dass sie noch hier ist.
Kapitel 2
Ellie
Eine Sache, die dir niemand übers Totsein erzählt, ist, wie verdammt langweilig es ist. Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich erwartet habe, als ich ins Gras gebissen habe. Ein singender Frauenchor und ein weißes Tor, das sich vor mir öffnet? Ein grimmig dreinblickender schwarzer Hund, der mein Herz auf eine Waage legt und mir erklärt, was ich im Leben alles falsch gemacht habe? Ein Kapuzenmann am Fluss Styx, der auf meine Bezahlung wartet, damit er mich ans andere Ufer fahren kann? All das wär hundertmal besser gewesen als die Realität. Sterben hat sich seltsam angefühlt. Zuerst war da ganz viel Nichts und Finsternis. Dann ein Gefühl, als würde mich jemand aus eiskaltem Wasser an die Oberfläche ziehen. Bevor ich überhaupt wusste, was geschehen ist, war ich wieder zurück auf dem Lacrosse-Feld hinter der Schule. Ellie Yang, auferstanden von den Toten! Nicht auf die coole Art und Weise wie Dracula oder Jesus. Mehr auf die Ich-bin-hier-aber-niemand-kann-mich-sehen-oder-hören-Art und Weise. (Ich hab nicht einmal Flügel. Das prangere ich an.)
Für 99,9% der Menschen bin ich unsichtbar. Als hätte ich nie existiert. Vermutlich hat mich das zum weltbesten Stalker überhaupt gemacht. Denn das ist alles, was ich jetzt den lieben langen Tag tue: Ich beobachte. Zum Beispiel die Frau hinter der Ladentheke, die gerade die Dollarscheine, die sie vom letzten Kunden erhalten hat, fein säuberlich in die Kasse einräumt. Sie befeuchtet ihren Daumen mit der Zunge und beginnt damit, die Scheine durchzuzählen. Speicheltropfen bleiben am Papier hängen. Ich hoffe, dass die Dinger so schnell keiner mehr anfasst.
Der Laden ist besser besucht, als ich erwartet hätte. Zwischen den Regalen, in denen sich frisch gepresster Apfelsaft, Marmeladen und Konfitüren stapeln, drängen sich die Besucher aneinander vorbei. In der Nähe der Souvenirabteilung kann ich Skys rostrote Locken erkennen. Sie hält gerade eine Plüschversion eines geschnitzten Kürbisses hoch und verzieht dabei das Gesicht.
Ich stelle mir vor, wie ich zu ihr gehe, und im nächsten Wimpernschlag stehe ich bereits neben ihr. Es ist schwierig zu erklären. Es fühlt sich an, als wäre da Wind – nur in mir drin, und er bringt mich genau dorthin, wo ich hinkommen will.
»Ich hasse Halloween.« Sky lässt das Plüschtier zurück in den Korb sinken. Dabei muss sie irgendeinen Mechanismus aktiviert haben, denn plötzlich beginnt der Kürbis monsterhaft zu lachen. Die restlichen Kameraden im Korb stimmen mit ein, was Sky ein genervtes Stöhnen entlockt.
»Autsch. Was haben dir leuchtende Kürbisse und Süßigkeiten je angetan?«
Sky verdreht die Augen. »Ich habe das ganze Jahr mit Toten zu tun. Da brauch ich nicht noch einen extra Feiertag dafür.«
Ein kleiner Junge im Geisterkostüm läuft mit ausgestreckten Armen auf uns zu. Ein Zittern geht durch meinen Körper – eine Art elektrischer Schlag –, als er durch mich hindurchrennt. Ugh. Ich hasse dieses Gefühl.
Sky sieht dem Jungen nach. »Ich werd nie verstehen, wieso die Leute sich ausgerechnet als Tote verkleiden wollen. Sterben tun wir alle eh noch früh genug.«
Sie ist nicht immer so grummelig. Ich meine, sie war schon immer die Ernsthafte von uns beiden. Die Verantwortungsbewusste. (Was auch immer das heißt.) Aber normalerweise ist sie besser darin, ihren inneren Grinch zu verbergen. Was nur drei Dinge bedeuten kann: Entweder ist Skylar Frost gerade hundemüde oder hungrig. Oder – absolutes Horror-Szenario! – beides.
»Okay, okay, Fräulein Griesgram.« Ich grinse. »Wie wär’s mit ein paar Karamelläpfeln, um deine Stimmung zu heben? Und jetzt sag mir nicht, dass du auch was gegen überzuckerte Früchte hast.«
Ihr entgleitet ein Seufzer. »Du kannst sie ja nicht einmal essen, Ellie.«
Ich stemme mit gespielter Empörung meine Arme in die Seite. »Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht anstarren und mir vorstellen kann, wie ich sie verschlinge. Ich habe nicht vergessen, wie Essen schmeckt.« Zumindest glaube ich das. Manchmal fühlen sich die Erinnerungen an mein Leben an, als würden sie von jemand anderem stammen. (Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hat.)
Widerwillig setzt sich Sky in Bewegung und kauft einen Karamellapfel an der Theke, auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass sie es nur tut, damit ich die Klappe halte. Wenn sie schon nicht in festliche Stimmung kommen will, muss ich sie eben dazu zwingen. Liebevoll, versteht sich. Meinen überaus überzeugenden Überredungskünsten ist es zu verdanken, dass Sky eingewilligt hat, mich zum Harvest Festival in Gervais zu begleiten. Hierhin wollte ich schon, seit ich ein kleines Kind war. Meine Eltern waren stets der Meinung, dass die Schule und mein Lacrosse-Training wichtiger seien als dieser »sinnlose Kommerz«. Doch meine Eltern sind nicht hier und ich bin tot, also kann mich niemand mehr davon abhalten, zu tun und zu lassen, was ich will. (Nicht, dass es viel gibt, was ich tun kann. Oder lassen. Aber das ist nicht der Punkt.)
Vor uns liegt das Kürbisfeld, auf dem sich gerade ein gutes Dutzend Menschen zum Pflücken versammelt hat. Dahinter entdecke ich die Umrisse des Maislabyrinths. Von irgendwoher erklingen die Töne der Live-Band, die gerade die Takte des nächsten Country-Songs anschlägt. Die Sonne strahlt vom Himmel. Ich stelle mir vor, wie sie auf meiner Haut brennt, ohne ihre Wärme spüren zu können. Ich meine, ich weiß, wie es sich anfühlen sollte – und wenn ich mich genug anstrenge, spüre ich es sogar. Aber es ist nicht real. Wenigstens sind Sonnenbrände oder Hautkrebs kein Problem mehr.
Ich drehe mich zu Sky um. »Schauen wir uns das Maislabyrinth an? Bitte!«
Sie nimmt einen vorsichtigen Bissen von ihrem Karamellapfel. Sie gehört zur Sorte Mensch, die Eiscreme nicht leckt, sondern beißt. (Und ja, das sollte ein Verbrechen sein.) »Ist das nicht für Kinder?«
»Rechtlich gesehen sind wir beide noch Kinder. Außerdem steht das schon lange auf meiner Bucketlist.«
Das ist nicht gelogen, wenn man mit schon lange die letzten zehn Sekunden meint. Ich habe nicht ein einziges Mal an Maislabyrinthe gedacht, als ich mir die Liste überlegt habe. Aber nun bin ich der Meinung, dass sie definitiv einen Platz auf jeder Bucketlist der Welt verdient haben.
»Na schön«, gibt sich Sky geschlagen. Die Bucketlist zieht bei ihr immer. Gut, dass sie nicht weiß, dass die Liste inzwischen länger ist als damals, als ich noch am Leben war. Oder dass jeden Tag mindestens drei neue Punkte hinzukommen.
Eine pummelige rothaarige Frau in einem blauen Overall winkt uns vom Kürbisfeld zu, als wir uns in Richtung Maislabyrinth begeben. Ich winke zurück, auch wenn ich weiß, dass Skys Mom das nicht sehen kann. Aber nur weil ich tot bin, heißt das nicht, dass ich meine Manieren vergessen hätte.
Neben ihr steht eine junge Frau, die sich nicht einmal die Mühe macht, die Hand zu heben. Wenn die ikonischen rostfarbenen Haare nicht gewesen wären, hätte man niemals auf die Idee kommen können, dass Quinn und Sky Schwestern sind. Sky ist voller Sommersprossen und Wärme. Quinn hingegen ist blass und kalt. Ein einziger Blick in ihr Gesicht verrät mir, dass sie jede Sekunde an diesem Ort verabscheut.
Wir gehen am Kürbisfeld vorbei und erreichen den Eingang zum Maislabyrinth. Darüber hängt ein großes Holzschild mit der Aufschrift Corn Maze. Aus dem Inneren des Labyrinths höre ich das Gekicher von Kindern, die zwischen den meterhohen Maispflanzen umherirren. Es hätte fast gruselig sein können, wenn das Wetter nicht so schön gewesen wäre. Außerdem habe ich sowieso schon länger die Theorie, dass mich nichts mehr so gruseln kann wie früher – jetzt, wo ich selbst etwas bin, vor dem die Leute sich fürchten.
Sky nimmt einen weiteren Bissen von ihrem Karamellapfel und betritt das Labyrinth. Es ist erstaunlich, wie etwas Zucker und ein gefüllter Magen sie verändern können. Inzwischen ist das Strahlen auf ihr Gesicht zurückgekehrt und ich glaube, sie hat sogar für ein paar Sekunden vergessen, dass sie Halloween eigentlich hasst.
Als wir vor einer Kreuzung ankommen, dreht sie sich zu mir um. »Denkst du, was ich gerade denke?«
»Wer die Mitte zuerst erreicht, schuldet dem anderen einen Eisbecher«, spreche ich ihre Gedanken laut aus. »Extragroß.«
»Mit Sahne«, fügt Sky an.
»Deal.« Wir wissen beide, wie bescheuert das ist. Ich kann kein Eis essen, geschweige denn irgendetwas bezahlen (nimm das, Kapitalismus!). Aber manchmal muss man ein wenig bescheuert sein, um mit der Realität klarzukommen.
»Nicht schummeln«, ermahnt mich Sky. »Wehe, ich erwische dich dabei, wie du durch eine Wand gehst.«
»Du nimmst das echt ernst, was? Man könnte fast sagen … todernst.«
»Ich schwöre dir, wenn ich noch einen dieser Flachwitze aus deinem Mund höre –«
»Bringst du mich um? Damit kommst du etwa sechs Monate zu spät«, entgegne ich, ein Grinsen auf meinen Lippen. Dann renne ich los.
»Hey!«, protestiert Sky, bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzt. Sie schlägt den linken Weg ein, ich den rechten, und nach wenigen Metern habe ich sie bereits zwischen den Maiskolben aus den Augen verloren.
Ich folge dem Weg zwischen den Pflanzen, die mich fast um einen Kopf überragen, und höre, wie der Wind durch sie hindurchrauscht. Oder vielleicht bin das einfach nur ich. Es ist erstaunlich, wie viel schneller man ist, wenn man keine Beine mehr besitzt. Na ja, zumindest keine echten Beine mehr. Sky hat keine Chance.
Nach drei Abbiegungen lande ich in der ersten Sackgasse. Ich werfe einen prüfenden Blick nach links und rechts, dann stelle ich mir vor, wie ich die Wand vor mir durchdringe. Wenige Augenblicke später lande ich auf einem kleinen Weg auf der anderen Seite. Sky hat gesagt, ich darf nicht durch Wände gehen. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht auf die andere Seite springen darf.
Grinsend renne ich weiter und folge dem Weg in die Richtung, in der ich die Mitte des Labyrinths vermute. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie lange ich bereits herumirre, bevor ich die Veränderung in der Luft spüre.
Ich halte inne, weil mir etwas wie ein schweres Gewicht auf den Oberkörper drückt. Was mich verwirrt, weil ich genau genommen nicht in der Lage sein sollte, etwas zu spüren. Aber es ist da, in der Luft, in mir drin, und es schmeckt bitter auf meinen Lippen.
Ich hebe den Kopf. Wolken schieben sich vor die Sonne und hüllen das Labyrinth in Dämmerlicht. Auf einmal kommen mir die Schatten viel länger vor als zuvor. Das matte Licht zwischen den Blättern hat sich nun in Dunkelheit verwandelt und der Wind weht stärker. Die Spitzen der Maispflanzen rascheln. Es klingt fast wie ein Flüstern. Von irgendwoher sind die verängstigten Rufe von Kindern aus dem Inneren des Labyrinths zu hören.
Ein Gewitter? Unsinn, das käme zu plötzlich. Und überhaupt, wieso ist mir plötzlich so kalt? Ich bin bei Weitem keine Expertin, was solche Dinge betrifft, aber mein Instinkt sagt mir, dass alles, was selbst die Grenzen zwischen Leben und Tod überwinden kann, nichts Gutes zu bedeuten hat.
»Sky?« Wenn mein Herz noch schlagen würde, würde es jetzt zu rasen beginnen. Ich habe Angst, ohne wirklich zu wissen, wovor. Es ist eine tiefgehende Furcht. Ein Urinstinkt, der mir gerade eine ziemlich eindeutige Nachricht sendet: Renn, verdammt noch mal!
Bevor ich mich bremsen kann, löse ich mich auf. Selbst nach all der Zeit kann ich nicht immer kontrollieren, wann ich springe. Ganz besonders nicht, wenn ich aufgewühlt bin. Das Maislabyrinth verschwindet in einem einzigen Wimpernschlag und ich finde mich in kompletter Schwärze wieder.
Nein. Es ist nicht Schwärze, es ist vielmehr … die komplette Abwesenheit von Farben. Hier ist nichts. Kein Oben und kein Unten, kein Leben oder Tod, kein Raum, keine Zeit.
Skys Großmutter nennt es das Ohne. Der Ort, wo alle Geister und herumirrenden Seelen hingehen, wenn sie ihre Verbindung zum Diesseits verlieren. Der Ort, wo ich hingehen werde, wenn ich Sky je verliere.
Ich bin ohne Ziel gesprungen, weil ich Angst hatte. Also bin ich hier gelandet. Und wie jedes Mal, wenn ich hier bin, fühlt es sich absolut furchterregend an. Ich kann spüren, wie ich mit jeder Sekunde, die ich an diesem Ort verbringe, zu nichts werde. Da lauert ein Ungetüm in der Finsternis und es verschluckt alles, was ich je war und je sein werde. Meine Gefühle, meine Erinnerungen, meine Gedanken.
Ich beschwöre Skys Bild vor meinem inneren Auge herauf, halte an meiner Erinnerung ihres Gesichts fest, und ich finde mich im Maisfeld wieder. Der große Holzturm vor mir verrät mir, dass ich in der Mitte gelandet bin. Wenige Meter von mir entfernt steht Sky. Sie hat mir den Rücken zugedreht und starrt wie gebannt auf den Holzturm.
»Tja, ich schätze, ich schulde dir wohl einen Eisbecher.« Ich gehe auf sie zu. Der Druck in der Luft und der seltsame Geschmack in meinem Mund sind verschwunden. Es ist, als wäre nie etwas geschehen.
Sky dreht sich nicht um. Der Karamellapfel liegt neben ihr am Boden.
Ich rufe ihren Namen, aber sie reagiert nicht. Ich springe vor sie und erstarre, als ich den Ausdruck in ihrem Gesicht bemerke. Ihre Augen sind weit aufgerissen und mit Tränen gefüllt. Sie ist blass wie ein Leintuch und zittert am ganzen Körper, während sie mich blinzelnd mit ihrem Blick fokussiert.
»Shit«, fluche ich. Sie sieht aus, wie wenn sie aus einem dieser Albträume erwacht, die sie so oft hat. »Alles okay?«
Ihre Unterlippe bebt beim Sprechen. »Ich … ich habe … Gott, Ellie.«
»Hey«, beschwichtige ich sie und strecke meinen Arm aus. Ich hasse mich dafür, dass ich sie nicht berühren kann. »Alles ist gut. Ich bin hier. Du bist in Sicherheit.«
Sie schüttelt den Kopf. »Da war etwas, Ellie. Ich habe es gesehen. Ich …« Ihr Blick klart auf und fixiert mich. »Da draußen ist etwas. Etwas Großes. Und ich glaube …« Sie atmet durch. »Es wartet.«
