Wie die Sterne über uns

Der Fremde traf in der Nacht ein.

Martin stand am Fenster und beobachtete, wie das Licht der Scheinwerfer durch die Finsternis schnitt. Der Regen peitschte gegen die Scheiben – ein steter, rauschender Rhythmus, der von den dünnen Wänden des alten Hauses kaum gedämpft wurde.

Eigentlich mochte er das Geräusch des Regens. Als Kind hatte er Stunden damit verbracht, in seinem Bett dem Prasseln zu lauschen und sich dabei vorzustellen, wie er auf Drachen in ferne Welten ritt.

Heute allerdings spürte er nichts von der Ruhe, die Nächte wie diese normalerweise mit sich brachten. Nichts an dieser Nacht war so, wie es normalerweise war – und wenn sich in ein paar Stunden die Sonne über den Horizont erhob, würde es das auch nie wieder sein.

Das Auto kam schnell näher. Die Scheinwerfer waren die einzigen Lichtpunkte in der Schwärze, die sich über die Insel gelegt hatte. Flink flitzte der neongrüne VW-Käfer die kurvenreiche Straße zur Farm hoch – ein unerwarteter Farbklecks inmitten der dunklen Blau- und Grautöne, in die die Welt getunkt worden war.

Martin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach zwei Uhr. Sie waren pünktlich.

Er wandte sich vom Fenster ab und nahm seine Jacke und den Hut vom Garderobenständer. Rasch schlüpfte er in seine Gummistiefel, schnappte sich den Schirm und öffnete die Tür. Hier draußen war das Rauschen des Regens noch lauter, dröhnte wie das Donnern eines Wasserfalls in Martins Ohren. Er stieg die zwei Treppenstufen zum Vorplatz hinab, spannte den Schirm auf und setzte sich in Bewegung.

Kalter Wind zupfte an seinen Jackenärmeln. Mit einer Hand hielt Martin den Hut fest, mit der anderen den Schirm, auch wenn dieser nur bedingt gegen die eisigen Wassertropfen half, die ihm gegen die Brillengläser spritzten. Seine Stiefel gaben schmatzende Geräusche von sich, als er durch die Pfützen auf dem Vorplatz stapfte.

Er erreichte das Tor. Der Käfer war bereits davor zum Stehen gekommen. Im matten Scheinwerferlicht konnte Martin zwei Schatten im Inneren ausmachen. Er winkte der Frau auf dem Fahrersitz zu, bevor er den Schlüssel aus seiner Manteltasche fischte und das Tor aufzog. Schlamm spritzte auf, als der Käfer wenig später an ihm vorbeizog. Martin ließ das Tor hinter sich ins Schloss fallen, dann kehrte er mit schnellen Schritten zurück.

Das Fahrzeug machte auf dem Vorplatz Halt. Martin hatte noch nicht ganz zu den beiden Passagieren aufgeholt, als die Scheinwerfer erloschen und die Tür auf der Fahrerseite aufging. Ein Paar gelber High Heels kam zum Vorschein, gefolgt von einem gepunkteten Schirm. Eine Frau stieg aus dem Wagen, fast einen Kopf größer als Martin, mit erdbrauner Haut, hüftlangen Cornrows und dunkelvioletten Lippen. Sie trug einen hautengen, gelben Regenmantel und dazu gemusterte Nylon-Strümpfe, die ihre langen, schlanken Beine betonten.

»Gott«, murmelte sie und hob den Fuß an, um den Absatz ihres Heels aus einer Schlammpfütze zu befreien. »Ich hasse dieses verfluchte irische Wetter.«

Martin schmunzelte. »Ich freu mich auch, dich wiederzusehen, Coral.«

Sie drehte sich zu ihm um, als hätte sie ihn erst jetzt dort stehen gesehen. »Oh, Martin«, flötete sie, die Worte von einem schweren Yorkshire Akzent durchzogen. »Du bist wahrlich ein Stück Sonnenschein an einem beschissenen Tag wie diesem.«

»Wie war die Überfahrt?«

Coral machte eine wegwerfende Bewegung. »Du kennst O’Lally ja. Hat mich erstmal eine Runde am Telefon beleidigt, weil ich ihn um diese Uhrzeit aus dem Bett geholt habe, nur um dann trotzdem eine halbe Stunde später am Hafen aufzutauchen.«

Martin schenkte Coral ein mitfühlendes Lächeln.

Der Fährkapitän war ein grummeliger alter Mann, der nur mit Charme und Höflichkeiten sparsamer umging als mit seinem Geld. Seit mehr als fünfzig Jahren fuhr er die Fähre vom Festland auf die Insel und zurück – viermal am Tag, ohne Pause, selbst an Feiertagen. Martin erinnerte sich noch gut an seine erste Überfahrt. Etwas mehr als zehn Jahre war es her, seit er mit einem halb leeren Koffer und einem Kopf voller Hoffnung am Pier von Skerry gestanden hatte. Bis heute hatte O’Lally sich bis nicht die Mühe gemacht, Martins Namen zu lernen. Doch der alte Kapitän war zuverlässig und stellte keine Fragen. Sollte er sich je über die ganzen merkwürdigen Gäste gewundert haben, die in den letzten Jahren in Nächten wie diesen auf Skerry angekommen waren, hatte er es sich auf jeden Fall nicht anmerken lassen.

»Gab es irgendwelche Probleme?«, erkundigte sich Martin.

Coral schüttelte den Kopf. »Lief alles nach Plan. Und falls ihn irgendjemand doch erkannt hat, werden sie sich nicht mehr daran erinnern können.«

Obwohl Martin wusste, dass Coral ihre Fähigkeiten niemals gegen ihn einsetzen würde, konnte er nicht verhindern, dass bei ihren Worten ein kalter Schauder seine Wirbelsäule hinabprickelte. Nach all der Zeit ertappte er sich manchmal immer noch dabei, wie er sich von ihrem Äußeren täuschen ließ. Hinter dem makellosen Make-up und den sorgfältig aufeinander abgestimmten Klamotten steckte eine Frau, welche die Erinnerungen anderer mit einem Fingerschnippen auslöschen konnte.

Martin sah zum Auto. Auf der Rückbank waren die Umrisse eines jungen Mannes auszumachen. Er hatte sich bisher noch nicht vom Fleck gerührt.

»Ist nicht gerade redselig, dein neuer Gast«, schien Coral seine Gedanken zu lesen. »Hat die ganze Fahrt hierher nur vor sich hin geschmollt.«

»Kannst du es ihm verübeln?«

»Jetzt sag mir bitte nicht, dass du Mitleid mit ihm hast.«

»Wir haben alle dasselbe durchgemacht.«

»Ja«, antwortete Coral, »aber wir wurden nicht alle mit einem goldenen Löffel im Mund geboren.« Sie stakste zur hinteren Tür des Fahrzeugs und öffnete sie. »Komm schon, Harry Styles. Zeit zum Aussteigen.«

Ein paar Sekunden verstrichen, dann kam Regung in den Schatten hinter dem Fenster. Ein junger Mann stieg aus dem Auto. Er war Mitte Zwanzig – das wusste Martin aus den Zeitungsberichten, auch wenn der schlaksige Körper ihn auf den ersten Blick ein paar Jahre jünger erscheinen ließ. Dunkle, wellige Haare, die knapp über die Ohren reichten, umrahmten einen kantigen Kiefer, und das einzige bisschen Farbe in seinem Gesicht waren die Schatten unter seinen Augen. Er erinnerte Martin auf den ersten Blick ein wenig an die Vampire aus jenen Filmen, die Patricia so sehr liebte. Gutaussehend, aber auf eine unnatürliche Art und Weise. Als verbringe er jede Sekunde jeden Tages damit, die Maske, die er aufgesetzt hatte, nicht verrutschen zu lassen.

Cedric Cobbett. Sohn des amtierenden Premierministers von Großbritannien – und nun der neuste Bewohner auf der Farm.

Er war anders als auf dem Video, stellte Martin fest. Nicht ganz so zusammengekauert und von Furcht erfasst wie in der Aufnahme, welche in den letzten Tagen in den Medien die Runde gemacht hatte. Aber die Angst war immer noch da. Cedric sah Martin nicht einmal an, als er vor ihm stehen blieb. Stattdessen wanderte sein Blick wie von selbst zum matschigen Boden hinab.

Erst jetzt wurde Martin klar, dass Cedric immer noch schutzlos im Regen stand, während das Wasser seine Haare und Kleidung dunkler färbte, als sie sowieso schon waren. Rasch trat er ein paar Schritte nach vorne, sodass Cedric unter seinem Schirm Platz fand.

»Na los«, sagte Martin. »Bringen wir dich ins Trockene.«

Cedric folgte ihm widerstandslos, auch wenn Martin nicht entging, wie er bei jeder Bewegung instinktiv zurückwich. Die meisten waren in den ersten Tagen nach der Veränderung schreckhaft und aufgelöst. Die Tatsache, dass das eigene Leben nie wieder so sein würde wie zuvor, ließ viele von ihnen in ein Loch der Verzweiflung fallen, aus dem sie nur mit viel Zeit und Geduld wieder herauskletterten.

Martin öffnete die Tür und ließ Cedric eintreten. Er schüttelte den Schirm aus, bevor er ihn – immer noch aufgespannt – auf dem Teppich im Flur zum Trocknen liegen ließ.

»Ich musste ja unbedingt die Louboutins anziehen«, grummelte Coral, während sie ihre Heels am Fußabtreter abrieb.

Martin führte Cedric durch den großen Durchgang, welcher den Flur mit dem Wohnzimmer verband. »Am besten machst du es dir einfach irgendwo bequem«, sagte er. »Ich setze uns unterdessen etwas Tee auf.«

Cedric stand für einen Moment etwas verloren im Flur, bevor er sich unter dem Türrahmen durch duckte und zögernd auf einem der Sessel neben dem Kamin niederließ. Martin verschwand inzwischen in der angrenzenden Küche, füllte den Teekessel mit Wasser und stellte ihn auf die Herdplatte. Er nahm den Teller mit Keksen, der noch von Taras Geburtstag übriggeblieben war, bevor er wieder zurückkehrte.

Martins Großmutter hatte immer gesagt, dass ein Haus etwas Lebendiges sei, und wenn das stimmte, dann war das Wohnzimmer zweifellos das Herz davon. Auch wenn es, wie alle Räume im Erdgeschoss, kaum groß genug war, um mehr als eine Handvoll Menschen zu beherbergen, fühlte es sich nicht erdrückend an. Der Boden war ausgelegt mit einem bunten Teppich, der aussah, als wäre er aus den verschiedensten Stoffresten zusammengenäht worden, und Sessel in allen möglichen Farben und Mustern luden zum Verweilen ein. Die meisten Möbelstücke hier drin hatte Martin entweder in Gebrauchtwarenläden und auf Flohmärkten zusammengesucht, oder sie gehörten den unterschiedlichen Bewohnern, welche die Farm im Verlauf der Jahre beherbergt hatte: Taras Hanteln auf dem obersten Regalbrett, Harveys alter Schaukelstuhl in der Ecke, Patricias Sammlung alter Schwarz-Weiß-Filme und die feinen Abdrücke von Alisons Stiefeln auf dem Holzboden. Das Wohnzimmer war ein Gemälde, kreiert aus den Farben und Formen aller Menschen, die hier lebten und gelebt hatten.

Coral hatte sich inzwischen aus ihrem Mantel geschält und es sich mit überschlagenen Beinen auf dem Sofa bequem gemacht. Vorsichtig balancierte Martin das Tablett mit den Teetassen und Keksen in den Raum und stellte es auf dem Tisch ab.

»Es ist Kamille«, sagte er, als er das Getränk Cedric reichte. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

Schweigend nahm Cedric die Tasse entgegen.

Martin sank in den Sessel, der am nächsten beim Durchgang zur Küche stand, und schlang seine Finger um das Gefäß in seinen Händen. Ein wohliger Geruch stieg in seine Nase – warme Sommernächte im Garten und nie enden wollende Tage unter der Sonne.

»Also, Cedric …«, setzte Martin an, hielt jedoch inne, bevor er den Satz beenden konnte. »Ist es in Ordnung, wenn ich dich Cedric nenne?«

Der andere Mann nickte stumm.

»Gut. Dann herzlich willkommen auf Skerry, Cedric.« Martin setzte sein bestes Lächeln auf. »Mein Name ist Martin. Vielleicht hat dir Coral schon von mir erzählt.«

»Herzchen, du weißt, dass ich dich liebe, aber viel zu erzählen gibt’s da wirklich nicht.«

Sie hatte nicht unrecht. Martin konnte die Male, welche er Skerry in den letzten Jahren länger als einen Tag verlassen hatte, an einer Hand abzählen.

»Ich bin deine Ansprechperson für alle Fragen oder Unklarheiten, die du haben solltest«, fuhr er fort. »Unser Ziel ist es, dir einen Ort zu geben, wo du dich sicher fühlst und keine Angst mehr zu haben brauchst. Dir steht es frei, so lange zu bleiben, wie du möchtest. Und wenn du bereits am zweiten Tag schreiend davonrennen willst, dann ist das auch völlig in Ordnung.«

Das war normalerweise der Punkt, wo sich die Gäste zum ersten Mal entspannten, oder zumindest ein feines Schmunzeln zeigten. Martin hatte dieses Gespräch schon so oft geführt, dass es sich inzwischen anfühlte, als würde er einfach einem Drehbuch in seinem Kopf folgen. Doch von Cedric kam nichts – kein Lächeln, keine Regung, bloß jener leere Blick, mit dem er zu Boden starrte.

Martin räusperte sich. »Die Hausregeln und alles, was sonst noch wichtig ist, werde ich dir morgen früh erklären. Dann wirst du auch die anderen kennenlernen.«

Das kitzelte endlich eine Reaktion aus Cedric heraus. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hob er den Kopf und gab den Blick auf seine Augen frei. Obwohl Martin darauf vorbereitet gewesen war, traf ihn die Gänsehaut, die in diesem Moment über seine Armen und seinen Oberkörper prickelte, wie ein sanfter Stromschlag. Cedrics Iriden waren angefüllt mit Sternen – Abermillionen von ihnen, ein ganzer Nachthimmel aus Galaxien und Farben und Lichtern, die in seinen Augen tanzten. Martin ließ sich in sie hineinfallen, und plötzlich stand er mit nackten Füßen in taufrischem Gras, über ihm derselbe Nachthimmel, endlos weit und doch zum Greifen nahe.

Er blinzelte und saß wieder im Wohnzimmer auf der Farm, das Gras und das Gefühl des kühlen Winds auf seinen Wangen nur noch eine ferne Erinnerung. Alles, was blieb, war der Sternenhimmel in Cedrics Augen – derselbe Sternenhimmel, den auch Martin und Coral in sich trugen.

Arkana.

Das war der Name, der ihnen verliehen worden war – wenige Monate, nachdem der alles verändernde Meteoritenschauer vor zwanzig Jahren an der Erde vorbeigezogen war. Bis heute konnte sich niemand erklären, was in jener Nacht genau geschehen war. Die unerklärlichen Fähigkeiten, die sich seitdem scheinbar ohne Regeln oder irgendein Muster in Menschen zeigten, stellten Wissenschaftler vor ein Rätsel. Manche vermuteten eine Genmutation, andere nannten es eine Strafe Gottes. Was auch immer es war: Es hatte in jenen, welche nicht von den Sternen beschenkt worden waren, einen Hass geschürt, der verhinderte, dass die Arkana je ein gewöhnliches Leben führen konnten.

»Andere?«, fragte Cedric. »Andere Arkana?« Sein Adamsapfel bebte.

Fast hätte Martin vergessen, was er vor wenigen Momenten noch gesagt hatte. Es kam nicht oft vor, dass er in den Sternenhimmeln anderer versank – und schon gar nicht, dass er seinen roten Faden verlor. Nicht bei einem Gespräch wie diesem.

»Mach dir keine Sorgen deswegen«, meinte er mit einem Schmunzeln. »Du wirst sie alle früh genug kennenlernen.«

»Ich dachte, das sei ein Schutzhaus.«

»Das stimmt.«

»Ich habe nicht eingewilligt, mich hier draußen mit einer Gruppe von Freaks einsperren zu lassen«, erwiderte Cedric.

Martin sah zu Coral hinüber, die ihm einen vorwurfsvollen Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick zuwarf. »Du bist jetzt einer dieser Freaks«, stellte sie klar und malte beim letzten Wort mit ihren langen Fingernägeln Gänsefüßchen in die Luft. »Ob es dir passt oder nicht.«

Cedrics Finger drückten sich in den Stoff seines Sessels. Er presste den Kiefer aufeinander und sah weg. »Nein, bin ich nicht«, hörte Martin ihn murmeln.

Die meisten Menschen gingen durch eine ganze Reihe von verschiedenen Gefühlsstadien, nachdem sich ihre Fähigkeiten zum ersten Mal gezeigt hatten. Das Erste war normalerweise Schock. Man wurde nicht als Arkana geboren. Stattdessen war es etwas, das plötzlich und von einem Tag auf den nächsten passierte – ohne ersichtlichen Grund oder Auslöser.

Das zweite Stadium war Verleugnung. Es war offensichtlich, dass Cedric noch mittendrin steckte, was – wenn man bedachte, dass seine Veränderung nicht einmal eine Woche zurücklag – kaum verwunderlich war. Hunderte von Malen hatte sich Martin dieselben Sätze anhören müssen:

Es ist bloß vorübergehend.

Ich werde eine Heilung finden.

Ich bin nicht wie ihr.

Im Endeffekt schlossen alle Arkana ihren Frieden mit sich selbst und ihrem neuen Ich. Auch wenn Martins Gefühl ihm sagte, dass es bei Cedric etwas länger dauern könnte. Zumindest, wenn man bedachte, aus welchen Verhältnissen er kam.

»Wir werden alles daransetzen, dass du dich hier wohlfühlst«, versprach Martin. »Arkana oder nicht.«

Cedric antwortete nicht. Für einen Moment war bloß das leise Ticken der alten Standuhr im Wohnzimmer zu hören.

»Martin? Kann ich kurz mit dir reden?«, durchbrach Coral die Stille schließlich.

Martin nickte, bevor er sich vom Sofa erhob und Coral in den Flur folgte. Erst, als sie außer Hörweite waren, blieb diese stehen.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, wollte sie wissen.

»Du hast zugestimmt, dass du ihn herbringen wirst.«

»Das war nicht meine Frage.«

Martin verstummte einen Moment. »Er braucht einen Ort, wo er unterkommen kann, richtig? Alle anderen Schutzhäuser haben ihn abgelehnt.«

»Aus gutem Grund«, merkte Coral an. »Seine Anwesenheit hier könnte die Sicherheit von allen anderen gefährden.« Sie berührte Martins Arm. »Deine Sicherheit.«

»Ich kann sie beschützen.«

»Kannst du dich auch selbst beschützen?«

Martin trat einen Schritt zurück und richtete den Kragen seines Wollpullovers. Eine der Lampen im Flur begann zu flackern. »Cedric braucht einen Ort, wo er bleiben kann, und wir können ihm diesen Ort geben.«

Corals Lächeln erinnerte Martin an das Lächeln, welches Eltern ihren Babys schenkten, nachdem diese sich gerade das Gesicht mit Brei vollgeschmiert hatten – eine Art liebevolle Anerkennung der Tatsache, dass sie zu klein waren, um es besser zu wissen.

»Deine Gutmütigkeit wird dich eines Tages umbringen, Mister Dorgan«, sagte sie.

Martin erwiderte ihr Lächeln. »Aber nicht heute.«

»Glaub ja nicht, dass ich dir aus der Klemme helfen werde, wenn es soweit ist«, grummelte sie, bevor sie ihren Hals in Richtung des Wohnzimmers streckte. »Hey, Styles«, rief sie. Wenn du diesem Idioten hier auch nur ein Haar krümmst, befördere ich deinen vergoldeten Hintern persönlich zurück nach London, hast du verstanden?«

Anstelle einer Antwort kam nur leises Gemurmel von der anderen Seite.

Coral drehte sich wieder zu Martin um. »Ich schätze, ich sollte dann mal wieder los. O’Lally wird mich über Bord werfen, wenn ich ihn zu lange warten lasse.«

»Danke«, sagte Martin. »Für alles.«

Sie verdrehte die Augen. »Red nicht, als wäre das unser letztes Wiedersehen. So schnell wirst du mich nicht los, Dorgan.«

Er schmunzelte. »Ich verlass mich drauf.«

Coral drückte ihm einen raschen Kuss auf die Wange, dann schnappte sie sich ihren Mantel und den Schirm. Martin hörte sie einmal mehr lautstark über das verdammte irische Wetter fluchen, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und sich wieder Stille über das Haus legte.

Als Martin ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Cedric noch immer auf seinem Sessel, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick irgendwo in der Leere gefangen. Für den Bruchteil einer Sekunde – als er sich unbeobachtet glaubte – konnte Martin die Angst in seinen Zügen erkennen. Die Verzweiflung, die ihn bis hierher getrieben hatte. Die Ungewissheit, wie seine Zukunft aussehen würde. Martin kannte diesen Ausdruck nur zu gut, hatte er ihn doch in den Gesichtern aller Gäste gelesen, die in den letzten Jahren einen Schritt über seine Türschwelle gesetzt hatten.

Der Moment verging so schnell, wie er gekommen war, und kaum hatte Cedric Martin im Türrahmen entdeckt, schob sich die ausdruckslose, grimmige Maske wieder über seine Züge.

»Komm«, sagte Martin. »Ich zeige dir dein Zimmer.«

Cedric folgte ihm ohne ein weiteres Wort. Martin führte ihn in den Flur und dann die Treppe hoch, sorgfältig bedacht darauf, die Stufen zu überspringen, die am meisten knarzten.

Sie erreichten das erste Obergeschoss, das um diese Uhrzeit in völliger Finsternis lag. Am Ende des Ganges befand sich eine weitere Treppe – deutlich steiler als die erste, das Holz so alt, dass es unter ihren Schritten hörbar ächzte. Martin kletterte nach oben und zog an der Schnur, die im Halbdunkeln kaum sichtbar war. Ein kurzes Flackern, dann ging die einzelne Glühbirne an. Sie wippte sanft hin und her und warf lange Schatten an die Wände der Diele.

»Das ist das Bad«, erklärte er und wies auf die Tür gegenüber dem Treppenabsatz. »Mein Zimmer ist da drüben. Du kannst Tag und Nacht anklopfen, wenn irgendetwas ist.« Er drückte die Klinke der Tür auf der rechten Seite herunter. »Und das ist dein Reich.«

Der Raum dahinter war nichts Besonderes. Unter der Dachschräge fanden gerade mal eine hölzerne Kommode und ein einfaches Bett Platz.

»Ich weiß, du bist vermutlich anderes gewohnt. Aber du kannst gerne alles umstellen oder verändern, was du nicht magst«, sagte Martin. »Vielleicht kann Tara dir helfen. Sie kennt sich mit handwerklichen Dingen aus.«

Cedric betrat den Raum. Kurz ließ er seinen Blick schweifen, bevor er auf das Bett sank. Die Matratze quietschte hörbar unter seinem Gewicht.

»Wir haben ein Telefon im Erdgeschoss, falls du jemanden kontaktieren möchtest«, fuhr Martin fort.

Cedric entwich ein trockenes Lachen. »Habt ihr kein W-Lan?«

»Ich fürchte, wir haben nicht einmal einen Computer anzubieten.« Martin zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Elektrische Gegenstände tendieren dazu, hier ein wenig verrückt zu spielen.«

»Natürlich tun sie das«, murmelte Cedric.

»Gibt es noch etwas, das du brauchst?«

Cedric hob den Kopf. Erneut spürte Martin, wie sich der Boden unter ihm öffnete. Dieses Mal gelang es ihm, sich nicht fallen zu lassen, auch wenn es ihn einiges an Konzentration kostete. Meine Güte. Er wurde wohl langsam alt.

»Ja«, murmelte Cedric. »Aber es ist nicht so, als könntest du mir das geben.«

»Es wird besser«, versprach Martin, auch wenn er wusste, dass er dazu kein Recht hatte. »Glaub mir.«

Cedric schnaubte bloß.