GHOSTS: Das Erbe der Seherin

Manchmal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht immer noch vor mir. 

Die meisten meiner Erinnerungen an jenen Tag sind schwammig, zerflossen wie Farbe auf einer Leinwand. Sie gehen ineinander über, verschmelzen zu einer einzigen Masse aus Kontrasten, Eindrücken und Pinselstrichen, die man nicht mehr voneinander trennen kann. Nur ihr Gesicht bleibt ewig während. Unveränderbar.

Es ist, als wäre die Erinnerung an ihre letzten Momente in Bernstein aufbewahrt worden. Ich kann mich an jedes Detail erinnern. Die dunklen, aufgerissenen Augen. Der Mund, der zu einem stummen Schrei verzogen ist. Die Art, wie ihre schwarzen Haare vom rauschenden Wind durcheinandergewirbelt wurden. Ich erinnere mich an die Verwirrung in ihrem Gesicht, der Sekundenbruchteil der Erkenntnis, der sich in ihren Zügen abspielte, bevor sie fiel. 

Sie versuchte, meine Hand zu ergreifen. Aber ich war zu langsam und die Schwerkraft zu stark. Sie schrie nicht. Sie hatte keine Zeit, denn als sie realisierte, was geschah, war es bereits zu spät. Sie wurde vom Meer verschluckt, stumm und wortlos. Siebzehn Jahre eines Lebens, weggetragen innerhalb weniger Sekunden von den schäumenden Wellen, die gegen die Klippen schlugen.

Und ich blieb allein zurück.

Die Erinnerung brennt in meinem Kopf, pocht hinter meiner Stirn, und ich öffne die Augen, nur um von der Finsternis meines Zimmers begrüßt zu werden. Ich habe nicht geschlafen. Nicht wirklich. Ein Blick auf den Digitalwecker auf meinem Nachttisch verrät mir, dass gerade mal eine Viertelstunde vergangen ist, seit ich das letzte Mal hingesehen habe.

»Ellie?«, flüstere ich in die Dunkelheit, ohne eine Antwort zu erhalten. Wir haben in den letzten Monaten so viel Zeit miteinander verbracht, dass es sich falsch anfühlt, wenn sie nicht bei mir ist. Ich weiß, dass sie nachts oft ziellos durch die Stadt irrt, um die Stunden bis zur Dämmerung zu überbrücken. Dennoch hinterlässt die Erkenntnis, dass ich tatsächlich allein in meinem Zimmer bin, eine unerwartete Schwere in meinem Magen.

Sie kommt zurück, rede ich mir ein, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Sie kommt immer zurück.

Es ist nicht so, als würde ich mich selbst anlügen. Ich war in den letzten Monaten nie allein. Ellie ist immer zurückgekehrt, ganz egal, wie lange es dauerte. Nur habe ich keine Ahnung, wie lange das noch so bleiben wird.

Ich verdränge den Gedanken und strample stattdessen die Decke weg, um mich auf der Bettkante aufzusetzen. Fahles Mondlicht fällt durch die Scheiben in mein Zimmer und malt milchige Rechtecke auf den Holzboden. Mit vorsichtigen Schritten balanciere ich zwischen den Farbtöpfen auf dem Boden hindurch zum Fenster und öffne es. Es ist Ende Oktober und die Kälte dringt durch den dünnen Stoff meines weißen Nachthemds. Ich kann das leise Gackern der Hühner bei der Scheune hören und den Ruf einer Eule irgendwo zwischen den Bäumen. In der Ferne, am Ende des Landes, das sich rund um die Farm erstreckt, glitzern die Lichter der Stadt. Jedes von ihnen wirkt wie ein Mahnmal für die Verantwortung, die ich trage. Für all die Menschen, die darauf vertrauen, dass ich sie beschütze vor den Seelen, deren Wispern in klaren Nächten wie diesen zu vernehmen ist.

Ich war fünf Jahre alt, als ich die Stimmen zum ersten Mal hörte. »Ihr Wispern ist das erste Zeichen«, erklärte Grandma, und sie behielt recht. Aus einem Wispern wurde ein Flüstern und aus dem Flüstern wurden Worte, die mein kindlicher Verstand damals noch nicht verstand. Klagerufe und Hilfeschreie von Seelen, gefangen zwischen Diesseits und Jenseits. 

»Es ist eine Gabe«, sagte Grandma.

»Es ist eine Pflicht«, sagte Mom.

»Es ist ein Fluch«, sagte Quinn.

An meinem zehnten Geburtstag kamen die Schatten. Zwei Jahre später formten sie sich zu Gesichtern und Mündern, aus denen die Stimmen emporkrochen. Im Sommer vor der High School wurden sie schließlich zu Körpern, zu durchscheinenden Gestalten in der Ecke meines Zimmers. Die Echos von Menschen, die noch nicht bereit sind zu gehen, obwohl ihr Leben längst geendet hat.

Alle paar Jahre kommt in unserer Familie ein Mädchen mit der Gabe auf die Welt. Wir können sehen, was anderen verborgen bleibt. Die ruhelosen Seelen derjenigen, welche diese Welt zu früh verlassen haben. All die Irrungen und Wirrungen zwischen Leben und Tod, welche gewöhnliche Menschen als Geister bezeichnen.

Das Zittern meines Körpers lässt meinen Gedankenstrom zu einem Ende kommen. Ich schließe das Fenster und blende das Wispern aus. Grandma hat mir einmal erklärt, dass die Stimmen schon so lange in dieser Welt gefangen sind, dass ihnen nur noch ihre Worte geblieben sind. Sie seien verloren, verdammt zu einer Ewigkeit in Finsternis, bis ihre Namen vergessen werden und sie ein zweites Mal sterben. 

Ich erschaudere. Dieses Mal hat die Kälte nichts damit zu tun.

Ich spüre ihre Anwesenheit, noch bevor ich mich ihr zuwende. Es ist der kurze Moment der Stille, in dem sich die Luft in meinem Zimmer verändert. Sie wird drückender. Kälter. Als würden meine Klamotten mich herunterziehen, weil sie sich mit Regenwasser vollgesogen haben.

Ich drehe mich um. Sie steht vor mir, ihr Gesicht nicht einen Tag älter als die Erinnerung in meinem Kopf. Dieselben dunklen Augen. Dieselben halblangen schwarzen Haare mit dem Pony, der ihre Brauen komplett verdeckt. Dieselbe blasse Haut. Aber dieses Mal liegt kein stummer Schrei auf ihren Lippen. Stattdessen formen sie sich bei meinem Anblick zu einem neckischen Grinsen.

»Du solltest dieses Nachthemd echt loswerden. Du siehst aus wie ein Geist«, spottet sie.

Ich kann nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. »Du bist doch nur neidisch, weil du für den Rest der Ewigkeit in Sneakers und Hosenträgern feststeckst.«

»Hey, das Outfit ist legendär«, protestiert Ellie. Sie greift an die Hosenträger, die sich über ihr weißes Shirt erstrecken, und spannt sie demonstrativ an. Es ist ein seltsamer Anblick, weil ihre Kleidung und ihre Hände so durchscheinend sind, dass sie bei der Bewegung beinahe miteinander verschmelzen. »Und Hosenträger sind einfach nur zeitlos.«

Sie trägt immer noch dasselbe Outfit wie an jenem Tag: Schwarze High Waist-Stoffhosen, Sneakers, ein weißes Shirt und die Hosenträger, die sie nur wenige Wochen zuvor im Second-Hand-Laden in der Stadt gekauft hatte. Es steht ihr.

»Du bist zurückgekommen«, spreche ich meinen Gedanken laut aus. Natürlich ist sie das. Sie kommt immer zurück.

»Klar. Wo sollte ich denn auch sonst hin? Ist ja nicht so, als würden irgendwelche anderen Geisterflüsterer in der Stadt rumlaufen, mit denen ich mich unterhalten könnte.« Wieder jenes neckische Grinsen. »Ich fürchte, du wirst mich nicht mehr so schnell los.«

Ich lächle. »Ich fürchte es auch.«

Es gibt keinen Ort, wo sie hingehen könnte. Denn Ellie Yang, meine beste und einzige Freundin auf dieser weiten Welt, ist vor sieben Monaten gestorben.

Und ich bin die Einzige, die weiß, dass sie noch hier ist.